Nach langem Ringen im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland (KdöR) hat die Leitung des Bundes im November 2023 eine neue „wegweisende Empfehlung“ herausgegeben: „WIE WIR ALS BUND FREIER EVANGELISCHER GEMEINDEN IN EINHEIT UND VIELFALT MIT HOMOSEXUALITÄT UMGEHEN“. Es ist der FeG-verfassungsgemäße Auftrag der „Erweiterten Bundesleitung“, solche „Empfehlungen“ zu geben. Was das allerdings bedeutet, das weiß niemand so genau.
Als ehemaliger FeG-Pastor und zugleich Verbündeter („Ally“) der queeren Community will ich mich an einer knappen, thesenartigen Einordnung versuchen. Das tue ich voreingenommen und nicht neutral. Ich vertrete nicht den frei-evangelischen Mainstream, im Gegenteil – und bin doch qua Sozialisation und Ausbildung waschechter FeG-Christ. Ich schreibe also in der Ambivalenz eines Verbündeten der queeren Community und zugleich FeGler. Dass dies überhaupt eine Ambivalenz ist, sagt schon viel.
Bei meinem Versuch gehe ich nicht auf alle Aspekte ein, sondern will in einigen Thesen meine persönliche Deutung im Kontext von kirchentheoretischen/ekklesiologischen Überlegungen anbieten – zur Diskussion, Korrektur und Ergänzung.
1 — Allem vorangehen muss die Feststellung: Die „wegweisende Empfehlung“ der Bundesleitung zum Umgang mit Homosexualität schreibt die Diskriminierung queerer Menschen in Freien evangelischen Gemeinden fort.
Mit anderen Worten: Sie ist diskriminierend. Das tut sie allem Wohlwollen nach nicht in der Intention, zu diskriminieren – und dennoch tut sie es. Es ist geradezu bezeichnend, dass sie das Wort „Diskriminierung“ sehr beredt vermeidet und stattdessen von „Herabwürdigung“ und „Diffamierung“ spricht. In beiden Punkten wird man zustimmen können: Der grundlegende Wert aller Menschen wird sicher nicht in Abrede gestellt, und es wird auch niemandes Ruf beschädigt (abgesehen vom Ruf des Bundes FeG).
Wohl aber wird aufgrund einer natürlichen Gegebenheit, die als solche ausdrücklich anerkannt wird, zu einem benachteiligenden Handeln in Bund und Gemeinden aufgerufen. Ausdrücklich werden queere Christ:innen aus bestimmten Bereichen der Teilhabe (Gemeindeleitung und Pastorat) ausgeschlossen, und die Entfaltung ihrer sexuellen Identität und Orientierung wird heteronormativ abgewertet. Ihnen werden ganz konkrete Angebote der Gemeinde vorenthalten (Segnungen/Trauungen).
Zudem wird die Wichtigkeit und Dringlichkeit diskriminierungsarmer (um nicht zu sagen: diskriminierungsfreier) Räume innerhalb des Bundes Freier evangelischer Gemeinden theologisierend in whataboutistischer Manier relativiert unter Verweis auf wichtigere und dringlichere Aufgaben („Gemeinden zu gründen und zu entwickeln“). Alles in allem handelt es sich um einen Text, der homosexuelle Christ:innen wenn nicht abwertet – darüber wird man formal streiten können –, dann doch mindestens erheblich diskriminiert. Man kann und muss das homophob/homofeindlich oder queerfeindlich nennen.
2 — Die Empfehlung bildet nicht ab, wie zäh und schmerzhaft der Prozess war, der ihm vorausgeht.
Dem Text der „Erweiterten Bundeleitung“ geht ein langer, teils schmerzhafter und für viele Seiten enttäuschender Prozess voraus. Das kommt im veröffentlichten Dokument bedauerlicherweise nicht zur Sprache. Die dort angesprochenen „konstruktiv[en] und von gegenseitiger Wertschätzung geprägt[en]“ Gespräche waren allenfalls die Zielgerade, bilden damit aber nur einen kleinen Teil des Weges ab. Zur Wahrheit gehört auch die riskante Kommunikation über offene Briefe, eine FeG-untypische Top-Down-Mentalität und hierarchische Prozesssteuerung, persönliche Diffamierungen und gemeindliche Lagerbildung, und alles in allem eine Stimmung, in der für den Bund FeG sehr Grundsätzliches auf dem Spiel stand. Die Frage nach queeren Menschen im Bund FeG war, ist und bleibt umkämpft und mit Verletzungen verbunden. Die allzu harmonisierende Sprache und insbesondere das Fehlen einer Bitte um Entschuldigung oder Vergebung gegenüber queeren Menschen täuschen über die hohen Kosten des Prozesses hinweg.
3 — Die Bundesleitung spricht zwar zum Bund, aber nicht für den Bund.
Das höchste Gremium des Bundes ist der Bundestag, die Versammlung aller (Delegierten der) Gemeinden, nicht die Bundesleitung. Dementsprechend muss auch die Legitimierungsabhängigkeit betrachtet und beachtet werden: Die Bundesleitung ist dem Bundestag rechenschaftspflichtig, nicht umgekehrt. Die Bundesleitung fällt gemäß der Verfassung des Bundes keine theologischen Entscheidungen, sondern kann lediglich „empfehlen“. Dementsprechend kann die Bundesleitung den Gemeinden weder etwas erlauben noch verbieten, dies würde das ureigene kongregationale Prinzip (das ich gleich noch erläutere) des Bundes FeG konterkarieren.
4 — Nomen est omen: Der Bund Freier evangelischer Gemeinden ist keine Kirche im eigentlichen Sinn, das ist im Vollsinn (nur) jede einzelne Ortsgemeinde für sich.
Gemäß der Verfassung des Bundes sind seine Ortsgemeinden selbständig (aber nicht: unabhängig) – sie entscheiden daher auch in allen relevanten Fragen selbständig. Das nennt man Kongregationalismus oder kongregationales „Kirchen“verständnis. Der Bund definiert sich als eine „Lebens- und Dienstgemeinschaft“, das heißt: Er unterstützt die Gemeinden erstens in ihrem „Lebensunterhalt“ – sei es durch Verwaltung, Aus- und Fortbildung von Haupt- und Ehrenamtlichen, in der „Lebensführung“ durch Impulse und Hilfestellung, Vernetzung und vielen anderen Fragen, die die Ressourcen und Kompetenzen der ca. 500 Ortsgemeinden mit durchschnittlich etwa 90 Mitgliedern übersteigen. Vergleichbar ist der Bund mit einer Familie in all ihrer Ambivalenz zwischen Verbundenheit und Individualität.
Zweitens sind die Gemeinden des Bundes durch einen gemeinsamen Dienst (nämlich im weitesten Sinne: dem Dienst am Evangelium) miteinander verbunden, und zwar unabhängig von der jeweiligen Interpretation und Gestaltung dieses Dienstes. Darin spiegelt sich etwas vereinshaftes, insofern Menschen mit einer gemeinsamen „Mission“ in aller Unterschiedlichkeit ein gemeinsames Ziel oder Interesse verfolgen.
5 — Der Bund Freier evangelischer Gemeinden ist (anders als seine Ortsgemeinden) ausdrücklich keine Religions- oder Glaubensgemeinschaft.
Der Bund regelt theologische Fragen nur dann auf „Bundesebene“, wenn sie für die Ausübung der „Lebens- und Dienstgemeinschaft“ relevant sind. Das betraf in der jüngeren Vergangenheit etwa die Frage, ob der Bund auch Frauen die Möglichkeit gibt, den offiziellen Status „Pastorin im Bund“ zu erhalten. Wohlgemerkt und wichtig: Die grundsätzliche Möglichkeit, dass eine Frau unter einer anderen oder derselben Bezeichnung die gleichen Aufgaben wie ihr männlicher Kollege in einer Gemeinde (die das möchte) hauptamtlich ausführt, war dadurch nie infrage gestellt.
Auch in der (insbesondere zwischenkirchlich) wichtigen Frage der Taufe hat „der Bund“ eine (höchst ambivalente und daher in bestimmter Hinsicht höchst attraktive) gemeinsame theologische Position – ungeachtet der Tatsache, dass einzelne Gemeinden dieser theologischen Position in ihrer Praxis widersprechen.
6 — Die (auch und gerade theologische) Selbständigkeit der Ortsgemeinde kann durch die Empfehlung nicht angetastet werden.
Die Bundesleitung kann den Gemeinden also gar keine Vorgaben machen, da sich die „wegweisenden Empfehlungen“ (Art. 8, Abs. 2 der FeG-Verfassung) lediglich auf den Bund beziehen, nicht aber auf die Gemeinden. Das heißt konkret: Die Empfehlung kann (und wird zunächst) noch verhindern, dass geoutete queere Menschen den Status „Pastor:in im Bund“ bekommen – sie kann und wird aber nicht verhindern, dass begabte und offen queere Menschen in einzelnen Gemeinden als Pastor:innen arbeiten. Denn Anstellungsträger ist immer die Ortsgemeinde, nicht der Bund (die schwer zu erklärenden Ausnahmen bestätigen die Regel).
Es liegt also in der inneren und grundlegenden Struktur des Bundes Freier evangelischer Gemeinden begründet, die Bedeutung der „wegweisenden Empfehlung“ für die Gemeinden erheblich zu relativieren, wohlgemerkt ohne damit ihre diskriminierenden Inhalte und die äußerst fatale und vor Ort teils folgenreiche Außenwirkung zu relativieren. Queeroffene Gemeinden werden sich aufgrund der „Empfehlung“ nicht zurückentwickeln, vielmehr werden sich auch bisher zurückhaltende Gemeinden intensiver mit queeren Fragen und Menschen (!) beschäftigen. Das Beispiel der veränderten Haltung der Bundesleitung durch ihre vergangenen einschlägigen Verlautbarungen zur Homosexualität (2004, 2018/19, 2023) lässt begründet hoffen, dass zumindest in dieser Sache dem Fortschritt gegen alle Frustration zu trauen und viel zuzutrauen ist. Oder anders gesagt: Bei der nachzuzeichnenden theologischen „Liberalisierung“ ist es eine Frage der Zeit, wann der nächste Schritt gegangen wird. Nach Adam Riese und dem Gesetz der Reihe wäre es in knapp zwei Jahren so weit …
7 — Es handelt sich bei der „Empfehlung“ ausdrücklich nicht um ein Konsenspapier des Bundes.
Nach dem Gesagten sollte klar sein: Die Empfehlung bildet keinen Konsens im Bund FeG ab. Der Text ist ausschließlich repräsentativ für die Personen, die ihn als „Erweiterte Bundesleitung des Bundes Freier evangelischer Gemeinden“ verantworten. Es handelt sich um eine Meinung im Bund, eine gewichtige, aber dennoch nur eine.
8 — Die Empfehlung bildet nicht die Realität im Bund FeG ab.
Auch wenn der Titel es vorgibt: Es mag der Wunsch sein, dass alle Freien evangelischen Gemeinden so handeln, es ist aber nicht die Wirklichkeit. Die Realität des Bundes passt sich notwendigerweise (meist mit einiger Verzögerung) der Realität der Gemeinden an, die diesen Bund konstitutiv ausmachen. Dass sich diese Realitäten verschoben haben, ist nicht nur der Grund für den frustrierenden Diskurs, sondern zugleich auch dessen hoffnungsvoller Fortschritt. Queere Menschen in Leitungspositionen sind in Freien evangelischen Gemeinden längst Realität, ebenso wie Segnungen bzw. Segnungsbereitschaft für queere Paare. Eine nicht mehr zu vernachlässigende und wachsende Minderheit im Bund plädiert mittlerweile offen und unter hohem persönlichen Einsatz und (leider) Risiko für konträre Positionen.
9 — Eine wohlwollende und aufmerksame Lektüre lässt eine „Liberalisierung“ erkennen.
Zur Wahrnehmung der Ambivalenz der „Empfehlung“ gehört auch, in dieser frustrierenden Rückständigkeit zugleich die Fortschritte zu erkennen, sofern man sie nicht als bloße Lippenbekenntnisse deutet (was aufgrund der konkret empfohlenen Konsequenzen legitim wäre): Die Empfehlung nimmt Homosexualität innerhalb der Gemeinden wenigstens ansatzweise als Realität wahr und fordert zur Integration auf. Ob eine solche Integration bei gleichzeitiger Festschreibung heteronormativer Exklusivität realisierbar ist, ist zwar mehr als fraglich – aber gegenüber den pathologisierenden und (noch) exklusiveren Verlautbarungen der Vergangenheit ist ein relativer Fortschritt, vielleicht sogar eine „Liberalisierung“ (Deutschlandfunk) zu sehen, die es anzuerkennen gilt. Dafür spricht, noch einmal, auch der Respekt vor dem hohen Einsatz queerer FeGler:innen und derer, die sich mit ihnen verbünden (von mir selbst spreche ich da am allerwenigsten).
10 — Die „wegweisende Empfehlung“ spiegelt eine Entwicklung in den Positionen der Bundesleitung(en) zur Homosexualität wider.
Was bei aller bleibenden Frustration und zwingend nötigen Kritik ebenfalls hoffnungsvoll stimmt, ist eine Veränderung im Duktus (im Text, besonders aber darüber hinaus im gesprochenen Wort), die meines Erachtens darauf zurückzuführen ist, dass die verantwortlichen Personen im bisherigen Prozess (erstmals?) mit den Geschichten queerer FeGler:innen konfrontiert waren. Bei einer wohlwollenden Lektüre der neuen „Empfehlung“ – und insbesondere unter Berücksichtigung der noch etwas „liberalisierteren“ Vorstufen – ist ein Bewusstsein dafür zu spüren, dass queere Menschen eben nicht nur „in vergangenen Zeiten diskriminiert“ und „in anderen Ländern in Gefahr“ (2018/19; zwei in weiteren Hinsichten ebenfalls höchst problematische Formulierungen) sind, sondern sowohl heute, als auch in Deutschland, und eben auch in Freien evangelischen Gemeinden. Der nächste Schritt muss sein, aus dieser Einsicht endlich Konsequenzen zu ziehen.
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