Die Taube und der Friede

Am vergangenen Sonntag (27. Februar) hatte ich zu predigen. Am Donnerstag zuvor hatte Russland die Ukraine überfallen. Was sagt man an so einem Tag? Der anstehende Predigttext in meiner aktuellen Serie zur Urgeschichte war (un)passenderweise die Geschichte von Noah und der Taube.


Kaum ein anderes Symbol prägt die Sehnsucht nach Frieden so sehr wie die Taube. Obwohl – oder vielleicht gerade weil das Bild so zerbrechlich ist, wie der Frieden selbst: Als Symbol ist die Taube gern gesehen – in der Stadt und auf dem eigenen Dach kann sie schonmal anstrengend sein. Das Bild ist zerbrechlich wie der Friede.

In dieser Woche mussten wir erschrocken, hilflos, ohnmächtig mit ansehen, wie der Friede – oder das, was davon ohnehin nur noch übrig war – auf schreckliche Weise zerbricht. Und wir hören heute Morgen in unserer Urgeschichte eine Erzählung über dieses Friedenszeichen schlechthin: die Taube. Das ist zugleich passend wie unpassend. Denn wir hören vom Symbol, es geht in dieser Erzählung aber gar nicht um Frieden. 

Ich habe lange überlegt, was ich damit heute mache: Zwinge ich dem Text ein Thema auf, das in ichm keine Rolle spielt? Ich habe mich gegen den eigentlich Sinn des Bibeltextes und für den Frieden entschieden. Deshalb hören wir heute die Geschichte von Noah und der Taube. Heute nur kurz, in Bruchstücken und mit wenig Erklärung, im Versuch, Worte für das Unsagbare zu finden, um im Krieg über den Frieden zu reden.

8 Noah schickte auch eine Taube los.
Er wollte herausfinden,
ob das Wasser vom Erdboden abgeflossen war.
9Aber die Taube fand keinen Halt für ihre Füße.
Da kehrte sie zu Noah in die Arche zurück,
denn noch immer bedeckte Wasser die ganze Erde.
Noah streckte seine Hand aus, nahm die Taube
und holte sie zu sich in die Arche.

Genesis 8 / BasisBibel. Altes und Neues Testament, © 2021 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Der Friede ist ausgerutscht, seine Füße finden keinen Halt mehr. Wir Menschen kehren zurück in alte Muster. Die Menschheit verkriecht sich doch immer wieder zurück in den Mief der Gewohnheit: in Gewalt, Aggression, Blutvergießen. Weil sie immer wieder keinen Halt findet, wenn sie das Wasser am Hals spürt. 

Wäre die Menschheit doch wirklich wie diese Taube des Friedens: Sie käme immer zurück – aber zur Ruhe. Noach, das ist hebräisch, es heißt genau das: Ruhe. Diese Ruhe – wie oft beginnt sie doch damit, dass jemand die Hand ausstreckt? Zur Versöhnung. Oder wenigstens zum versöhnlichen Abschied. Zum Loslassen. Aber bitte nicht als Faust. Der Friede kommt auf Fäusten nicht zur Ruhe.

Dabei will er landen, der Friede, weil er ausgelaugt ist. Weil er keine Kraft mehr hat zu flattern und zu fliegen. Weil er bei der Ruhe leben will. Weil er in der Ruhe ankommen und zuhause sein will. 

Gott, schenke Ruhe – und Frieden.


10 Er wartete noch weitere sieben Tage.
Dann schickte er die Taube
wieder aus der Arche hinaus.
11 Am Abend kam sie zu ihm zurück.
Diesmal hatte sie in ihrem Schnabel
ein frisches Blatt von einem Olivenbaum.
Da wusste Noah,
dass das Wasser auf der Erde weniger geworden war.

Genesis 8 / BasisBibel. Altes und Neues Testament, © 2021 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Der Friede braucht Zeichen. Kleine, grüne Zeichen aus dem Mund derer, die nach dem Frieden suchen. Kleine, dünne Zeichen, die manchmal nicht mehr sind als der Strohhalm, der uns vorm Ertrinken bewahrt. Hoffentlich. Kleine Zeichen für eine große Sache, die Hoffnung macht, dass uns das Wasser einmal nicht mehr bis zum Hals stehen wird.

Aber anstatt auf einen grünen Zweig zu kommen sägen wir an den Ästen, auf denen wir sitzen. Der Friede will wachsen, zum Baum werden. Er will kein Feigenblatt sein, mit dem wir lediglich unsere Schnäbel zieren. Er muss zum Baum werden, damit wir leben. Er muss stark sein wie ein Baum: Unverrückbar, unverhandelbar, selbstverständlich. 

Aber er lebt aus den Zeichen, die wir einander bringen. Zeichen, dass wir es ernst meinen mit dem Frieden. Mit Worten und noch mehr mit Taten müssen wir immer wieder zueinander zurückkommen. Jeden Abend. „Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen“, sagt ein biblisches Sprichwort (Epheser 4:26). Die Taube des Friedens, sie soll jeden Abend zurückkehren, damit wir nicht eines Morgens im Krieg aufwachen.

Gott, schenke Zeichen – des Friedens.


12 Er wartete noch einmal sieben Tage lang.
Dann schickte er die Taube wieder los.
Doch nun kehrte sie nicht mehr zu ihm zurück.

Genesis 8 / BasisBibel. Altes und Neues Testament, © 2021 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Stell dir vor es bräuchte eines Tages keine Taube mehr, um uns an den Frieden zu erinnern. Weil alle Schwerter zu Pflugscharen gemacht wurden, weil unsere Kinder nicht mehr gelernt haben, was ein Krieg überhaupt ist (Micha 4,3). Stell dir vor, wir brauchen keine Taube mehr, weil der Krieg ein Tabu ist; wir brauchen keine Zeichen mehr, weil wir den Frieden mit eigenen Augen sehen. Stell dir vor der Friede müsste nicht mehr im Käfig beschützt werden, sondern hätte seinen Platz in der Welt gefunden, in der Freiheit.

Stell dir das vor. Vielleicht würden wir die Taube ab und zu vermissen, wenn uns der Friede (zu) selbstverständlich geworden ist. Aber gerade brauche ich die Taube und vermisse nur den Frieden. Ich vermisse Gott. Aber: „Gott zu vermissen ist auch eine Art, mit Gott zu leben.“ (Christina Brudereck) Auch wenn es eine der schmerzhaftesten Arten ist.

Ich vermisse den Frieden, heute mehr denn je. Ich vermisse den Gott des Friedens – bei dem mehr Hoffnung ist, als ich hoffen kann; mehr Glaube, als ich glauben kann; mehr Liebe, als ich lieben kann. 

Ich hoffe, dass die Taube eines Tages nicht mehr wiederkommt, weil wir das Land des Friedens entdeckt haben, weil wir unseren Fuß ans Ufer des Friedens gesetzt haben.

Gott, schenke deiner Welt Frieden! 


Nachzuhören im Podcast der FeG Fischbacherberg


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